Wann hast du Deinen letzten Waldspaziergang gemacht??
Hast du Dir dabei lediglich die Füße vertreten, um dem Home-Office für ein paar Minuten zu entfliehen? Hast Du den Boden unter den Füßen wirklich gespürt? Bist Du auf schnurgeraden Fahrwegen unter sterbenden, vertrocknenden Nadelbäumen gelaufen? Hast Du Deinem Gewissen zuliebe Deinen täglichen Spaziergang absolviert, indem Du mangels interessanterer Alternativen lustlos über staubige Schotterwege marschiert bist? Die zwar schöne Ausblicke nach beiden Seiten bieten, aber Deinen Füßen den immer gleichen Schritt über die immer gleichen harten, steinigen, elendig langweiligen waldmaschinentauglichen Pisten abverlangen?
Es ist nicht leicht, einen Wald zu finden, der wirklich attraktiv ist. Man muss ihn heutzutage suchen, nach ihm recherchieren, geradezu fahnden. Es braucht Broschüren, die einen dahin geleiten. Mit festgelegten Routen, und Hinweisschildern, die dafür Sorge tragen, dass man auf dem rechten Weg bleibt und die Füße einen nicht unversehens in einen waldwirtschaftstauglichen Streichholzwald lenken.
Schönheit und Ursprünglichkeit
… sind nicht mehr selbstverständlich. Sie sind zu Inseln zusammengeschrumpft, umgeben von der Notwendigkeit des Hässlichen und Eintönigen.
Das ist nicht ermunternd. Und das dürfte für viele von uns ganz real sein. Man kann sich glücklich schätzen, in der Nähe eines ursprünglichen Urwaldes zu leben. Oder zumindest eines Urwaldes, der eine entfernte Verwandtschaft mit einem Urwald hat, danach aussieht oder an einem solchen erinnert.
Ich bin neulich einem Pärchen begegnet, das barfuß durch die Berge lief. Ja wirklich, durch die Berge, einem langen Hang entlang, der sich über mehrere hundert Höhenmeter zu einem tiefgrünen See hinabsenkte. Über Steine und Wurzeln, über algenglitschige Felsplatten, durch Latschengestrüpp und über Disteln hinweg, aber auch über weiche Moose und Flechten, über Grasbüschel und durch dahinplätschernde Bäche.
Ihr Gang war nicht gequält, sondern gekonnt und geschickt, fast schon wippend. Die Zehenspitzen streckten sie nach vorne, um den kommenden Untergrund zu ertasten, bevor der gesamte Fuß das volle Gewicht des Körpers aufnahm. Sie hielten sich wohl an dem Weg, aber wählerisch suchten sie sich jeden Stein genau aus, fügten sich in jede Rundung oder Mulde, die ein bequemeres Aufsetzen versprach. Eile war nicht geboten, aber langweilig wurde mir auch nicht, als ich ihnen in meinen schweren, klobigen krachledernen Bergstiefeln folgte. Den Blick schweifen lassen und staunen war nur im Stehen möglich.
Die Begeisterung
… für diese Gangart war ihnen ins Gesicht geschrieben. Sie wirkte ein wenig wie nicht von dieser Welt, träumerisch und erhaben. Aber es hätte nicht realer sein können. Sie begaben sich in unmittelbarem Kontakt mit der Erde, nahmen deren Oberfläche wahr und fügten sich ihr. Und standen dabei anderen Wanderern und Bergsteigern in nichts nach: der Rucksack nicht gerade klein, das Tempo so, dass man sich keine Sorgen zu machen brauchte, die untergehende Sonne könnte ihnen auf halbem Wege zwischen zwei Berghütten ihre letzten Strahlen entgegenschicken.
Ihr Tempo war auch das meinige, und die sich entspinnenden Gespräche flochten sich über die Zeit des Abstiegs von einem spannenden Thema zum nächsten: über das Barfußlaufen, über was der Mensch wirklich braucht, über Schulmedizin und Naturheilkunde, über den mitgebrachten Proviant, über die Typen, die man so auf solchen abgelegenen Hütten zu treffen pflegt, und über den schrulligen Hüttenwirt der letzten Nacht, der jedem Neuankömmling gleich eingangs die Leviten las, sprich wann genau es Abendessen gäbe, ab wann er keine Getränkebestellungen entgegennähme und dass seine Hütte eine Berghütte und kein Hotel wäre, bevor er ihn in seine wohlverdiente abendliche Ruhe entließ.
Was hat all das nun mit einem Waldspaziergang zu tun?
Nicht viel, möchte ich meinen. Aber das gesamte Erleben, die Begegnung, der wabernde Nebel über unseren Köpfen, der schrullige Wirt, der tiefgrüne See, den ein Gletscher irgendwann einmal wie mit einem einzigen Pinselstrich dahingegossen hat. Das kurze Bad in einer Gumpe, deren Temperatur ich aufgrund meiner äußerst stacheligen Gänsehaut lieber nicht wissen will. Die Begegnung mit einer aufdringlichen Drohne samt uneinsichtigem Bodenpersonal, der abschließende Kaffee auf einer Terrasse. Vor allem aber diese nackten Füße auf dem Boden, dieser unverfrorene Gang durch das gegebene Gelände, das Umgehen und zugleich Nutzen jeder Unebenheit, jeder Bodenform und jedem harten und jedem weichen Untergrund der Erde, das elegante Anschmiegen in die Natur.
Coachpotatoes in Watte
Das alles ließ einen nachhaltigen Eindruck bei mir zurück. Und gab mir zu denken: die äußerlich sichtbare Qualität eines solchen Weges samt seiner Umgebung werde ich zuhause gewiss nicht finden. Aber mir dämmerte, dass sich mein Erleben zuhause im Wald fast immer auf das Gesehene beschränkt. Nur meinen Augen und meiner Nase erlaube ich, die Natur wahrzunehmen.
Die Füße aber sind stets eingesperrt in einem gummibewehrten und lederummantelten Schwitzkasten, legen blindlings Meile um Meile zurück, trampeln sorglos über Erde, Wurzeln und Gestein. Ohne die geringste Ahnung zu haben, was sich da unten tatsächlich abspielt, wie es sich anfühlt. Couchpotatoes in Watte, umkost und taub, freiwillig in einem goldenen Käfig gefangen.
Das klingt schon krass. Und ich habe auch nicht gleich am nächsten Tag meine sämtlichen Schuhe zum Flohmarkt gebracht. Aber das Barfußlaufen hat es mir angetan. Ich tue es inzwischen immer wieder. Und was ich mir davon versprochen habe, das hält es auch: ein intensives Erleben, eine wohltuende Entschleunigung, aufgeweckte Sinne, Lust am Spüren. Das Barfußlaufen lässt die Langeweile eines eintönigen Waldes zumindest zeitweise in den Hintergrund treten. So wird der heimische Wald durch ein sich dem Aussetzen um Einiges aufgewertet. Und an den letzten Waldspaziergang möchte man sich wieder gerne zurückerinnern.